Schuldfrage Auffahrunfall

https://www.iww.de/va/archiv/unfallschadensregulierung-checkliste-auffahrunfall-f44899

Der im Volksmund bekannte Spruch „Wer auffährt, hat Schuld.“ findet auch im Verkehrsrecht seine Anwendung. Es gilt insoweit der sog. Anscheinsbeweis. Es wird davon ausgegangen, dass bei einem Auffahrunfall das Verschulden beim auffahrenden Hintermann liegt, da dieser entweder den Sicherheitsabstand zu seinem Vordermann nicht eingehalten hat, zu schnell unterwegs war oder anderweitig nicht aufgepasst  hat (vgl. Sie dazu nur Kammergericht Berlin mit Hinweisbeschluss vom 20.11.2013, Az.: 22 U 72/13 und Oberlandesgericht Hamm mit Urteil vom 31.01.1972, Az.: 13 U 140/71).

Ausnahmen des Grundsatzes „Wer auffährt, hat Schuld.“

Wie bereits dargelegt, gibt es mehrere Urteile, die eine Ausnahme von dem Grundsatz „Wer auffährt, hat Schuld.“ machen und damit sich gegen den Anscheinsbeweis richten. Es hat nämlich immer derjenige Schuld, der vorsätzlich oder fahrlässig gegen die Verkehrsregeln verstoßen und dadurch einen Unfall verursacht hat.

So liegt das Verschulden an einem Auffahrunfall dann nicht bei dem Auffahrenden, wenn der Vordermann beispielsweise völlig unvermittelt eine Vollbremsung macht, wodurch schließlich der Unfall verursacht wird. Die Sache ist allerdings dann wieder anders zu bewerten, wenn es sich bei dem vorausfahrenden Fahrzeug um einen Fahrschüler im Fahrschulwagen handelt. Lesen Sie dazu den Abschnitt „Verlust der Ansprüche bei eigenem vorwerfbarem Verhalten“ aus unserem Ratgeber „Unfall mit Fahrschule: hafte ich als Fahranfänger?“.

Eine Mitschuld für den Vorausfahrenden wird auch dann begründet, wenn er eine Vollbremsung riskiert, weil (kleine) Tiere über die Straße laufen. Handelt es sich demgegenüber um große Tiere, wie beispielsweise einem Reh oder einem Wildschwein, so wird die Schuldfrage wiederum anders beantwortet. In solchen Fällen kann eine Kollision mit dem Tier nämlich gefährliche Folgen für den Autofahrer, aber auch für Unbeteiligte, haben. Wer hier eine Vollbremsung riskiert, sollte nicht zusätzlich bestraft werden, indem er (wenngleich auch nur einen Teil) den Schaden selbst zu tragen hätte.

Gleiches gilt, wenn der Auffahrende mit überhöhter Geschwindigkeit und Lichthupe auf der Autobahn angerauscht kommt. Durch diese Nötigung wird in der Regel ebenso zumindest eine Mitschuld begründet.

Bitte beachten Sie deshalb:  Die Schuldfrage ist stets von den Umständen des Einzelfalls abhängig.

Übersicht:   gerichtliche Urteile, die eine (Allein-)Schuld des Hintermanns ausgeschlossen haben

  • Wenn der Vorausfahrende plötzlich und unerlaubt abbremst, so hat er eine Mit- oder sogar eine Vollschuld an dem Auffahrunfall und muss somit den Schaden (zumindest zum Teil) selbst tragen (so das Oberlandesgericht Frankfurt am Main mit Urteil vom 02.03.2006, Az.: 3 U 220/05).
  • Gleiches gilt, wenn ein Auto an einer Ampel zunächst losfährt, dann aber plötzlich eine Vollbremsung macht. Wird in solchen Fällen ohne verkehrsbedingten Grund gebremst, muss der Auffahrende nicht den daraus entstandenen Schaden tragen. Dies gilt selbst dann, wenn lediglich ein geringer Abstand zwischen den beiden Fahrzeugen bestand, da es in der Regel zulässig ist, im Verkehr an der grünen Ampel mit geringerem Abstand loszufahren (so das Amtsgericht München mit Urteil vom 27.07.2001, Az.: 345 C 10019/01).
  • Derjenige, der mit seinem Auto sorgfaltswidrig abbiegt, schafft eine unklare und somit gefährliche Verkehrslage, sodass dieser Autofahrer die alleine Schuld für einen Auffahrunfall trägt (so das Oberlandesgericht Köln mit Urteil vom 01.10.1999, Az.: 19 U 34/99).
  • Wird bei einer größeren Kollision neben den beiden direkt beteiligten Unfallfahrzeugen noch ein drittes Fahrzeug beschädigt, so kommt ein Anscheinsbeweis für eine schuldhafte Verursachung für den Schaden am dritten, also dem der in der Kette vorausfahrenden Wagen, dann nicht in Betracht, wenn nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob der mittlere Wagen, also der Vordermann des direkten Auffahrunfalls, nicht selbst eine Mitschuld hatte. In solchen Fällen fehle es nach Ansicht des Oberlandesgerichts Hamm an einem typischen Geschehensablauf, der ein Verschulden des letzten Kettenfahrers nahelegt. Daher entschied das Gericht auf eine Haftungsverteilung zu gleichen Teilen, da die sog. Betriebsgefahr, die von dem am Unfall beteiligten Fahrzeugen ausgeht, gleich hoch zu bewerten sei (OLG Hamm mit Urteil vom 06.02.2014, Az.: 6 U 101/13).
    So hat bereits zuvor auch das Oberlandesgericht Celle mit Urteil vom 28.03.2012 (Az.: 14 U 156/11) in einem ähnlich gelagertem Fall entschieden.
  • Wechselt der Vorausfahrende kurz vor dem Auffahrunfall die Spur, so spricht ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Auffahrunfall aufgrund eines sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsels passierte (so das Amtsgericht München mit Urteil vom 01.10.2013, Az.: 331 C 28375/12).

Beachten Sie bitte, dass es durchaus Betrüger gibt, die sich diesen „Beweis des ersten Anscheins“ zu Nutze machen und so bewusst Auffahrunfälle provozieren. Lesen Sie daher bitte unseren Ratgeber „Richtiges Verhalten bei einem Verkehrsunfall“, damit Sie in einem solchen Falle die nötigen Maßnahmen tätigen, um in einem etwaigen Rechtsstreit Ihr Recht durchsetzen zu können.

Denken Sie daran, dass selbst wenn Sie einen Auffahrunfall fahrlässig verschuldet haben, regelmäßig die Versicherung den Schaden bezahlen wird. Dies gilt jedoch dann nicht, wenn Sie einen Unfall vorsätzlich provozieren oder begehen.

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