Ein Anscheinsbeweis bei einem Unfall liegt vor, wenn es eine allgemeine Erfahrungen hinsichtlich eines typischen Geschehensablaufs gibt. Diese Lebenserfahrung ist auf generalisierbare Erfahrungssätze zurückzuführen (Ursache – Wirkung). Der Anscheinsbeweis ist ein mittelbarer Beweis.
Die Darlegungs– und Beweislast geht beim Anscheinsbeweis dahin, nachzuweisen, dass ein typischer Geschehensablauf anzunehmen ist, der auf eine typische Ursache zurückzuführen ist. Dies spielt bei der Feststellung des Verschuldens eine große Rolle, vor allem im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen („Wer auffährt, ist schuld.“). Ob der Anscheinsbeweis auch für die Kausalität gelten kann, ist strittig (vgl. hierzu BGH NJW 1954, 1119; BGHZ 11, 227).
Der Anscheinsbeweis stellt eine Beweiserleichterung für den Beweisverpflichteten dar. Soweit es dem Beweisgegner allerdings gelingt, den Anscheinsbeweis durch einen Gegenbeweis zu erschüttern, lebt die ursprüngliche Beweispflicht wieder auf und der Vollbeweis ist zu erbringen. Der Anschein ist dann erschüttert, wenn der Beweisgegner Tatsachen vorrägt und beweist, die den Schluss auf einen atypischen Geschehensablauf zulassen
Häufig kommt es vor, dass sich ein Unfall nur zwischen den Beteiligten abspielt, ohne dass Zeugen anwesend waren. Vielfach stehen in diesen Fällen auch keine sonstigen verwertbaren Beweismittel zur Verfügung, um das alleinige oder überwiegende Verschulden eines der Beteiligten zu beweisen.
Es wäre allerdings unbefriedigend, in solchen Fällen jedem einen Schadensersatzanspruch völlig zu versagen oder regelmäßig nur eine Schadensteilung aus der Gefährdungshaftung vorzunehmen, wenn ein äußeres Geschehensbild es nahe legt, davon auszugehen, dass tatsächlich die Schuld bei einem der beiden Beteiligten liegen müsste. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn jemand auf ein stehendes Fahrzeug auffährt, oder auch dann, wenn in einem Kreuzungsbereich ein vorfahrtberechtigter und wartepflichtiger Fahrzeugführer mit ihren Fahrzeugen zusammenstoßen.
Für derart eindeutige Fälle hat die Rechtsprechung den sog. Beweis des ersten Anscheins bzw. Anscheinsbeweis entwickelt. Es wird für dessen Anwendung davon ausgegangen, dass es typische Geschehensabläufe gibt, bei denen aus einem bestimmten Ereignis auf eine bestimmte Folge und umgekehrt auch aus einem bestimmten Folgeereignis auf eine bestimmte Ursache geschlossen werden kann. Liegt also ein feststehender äußerer typischer Geschehensablauf mit dem Ergebnis eines schädigenden Erfolgs vor, so führen die Grundsätze des Anscheinsbeweises dazu, dass hinsichtlich des Kausalverlaufs die Überzeugung gerechtfertigt ist, dass dem Ergebnis des Geschehens eine Sorgfaltspflichtverletzung vorausging.
Diese Beweiskraft bei typischen Geschehensabläufen hat der Anscheinsbeweis also sowohl hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs (des Kausalverlaufs) wie auch hinsichtlich der begangenen Sorgfaltspflichtverletzung (des Verschuldens).
Die Rechtsprechung hat Anscheinsbeweisregeln für nahezu unzählige Geschehensabläufe entwickelt (die in der Regel nach dem Muster „Wer auffährt ist schuld!“ funktionieren). Dies führt dazu, dass dann, wenn von einem derartigen Geschehensablauf auszugehen ist, das Opfer einer dadurch wahrscheinlichen Sorgfaltsverletzung auch den Ersatz des ihm entstandenen Schadens erlangen kann.
Insofern ist der Anscheinsbeweis ein Vollbeweis. Wie jeder andere Vollbeweis auch kann er selbstverständlich von demjenigen, der mit den Folgen seiner Anwendung belastet ist, widerlegt werden. Allerdings wird ein Beweis des ersten Anscheins nicht schon dadurch zum Wanken gebracht, dass Gedanken und Spekulationen über die Möglichkeit eines nicht typischen Verlaufs des Geschehens unterbreitet werden; vielmehr muss jede einzelne Tatsache, die das Bild des typischen Geschehensablaufs erschüttern und damit widerlegen soll, in vollem Umfang durch andere Beweismittel nachgewiesen werden.